Ohne Sprache keine Zivilisation – diese Binsenweisheit gehört zum anthropologischen Grundwissen. Sprache ermöglicht Kooperation, Handel, wissenschaftlichen Fortschritt und all jene komplexen sozialen Strukturen, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Der Ökonom Friedrich August von Hayek erkannte in seiner Theorie der spontanen Ordnung, dass Sprache selbst ein Produkt evolutionärer Prozesse ist: ein dezentrales, nicht geplantes System, das durch unzählige individuelle Interaktionen entstand. Sie ist, in Hayeks Terminologie, ein Paradebeispiel für eine Ordnung, die „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ ist.
Doch eben diese Eigenschaft macht Sprache so gefährlich. Denn während eine Atombombe eine physische Infrastruktur erfordert, die nur wenigen Mächtigen zur Verfügung steht, ist Sprache demokratisch verfügbar – und damit demokratisch missbrauchbar. Jeder Diktator, jeder Demagoge, jede totalitäre Bewegung der Geschichte hat ihre Macht nicht primär durch Gewehrläufe, sondern durch Worte erlangt. Hitler brauchte keine Panzer, um die Weimarer Republik zu Fall zu bringen – er brauchte den Sportpalast und ein Mikrofon. Stalin festigte seine Herrschaft nicht durch die Rote Armee allein, sondern durch eine systematische Neucodierung der russischen Sprache, die George Orwell später in „1984“ als „Neusprech“ („Newspeak“) literarisch verarbeitete.
Die Mechanismen sprachlicher Herrschaft
Die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Hannah Arendt analysierte in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951), wie totalitäre Regime Sprache einsetzen, um die Realität selbst zu manipulieren. Nicht die Lüge ist das primäre Werkzeug des Totalitarismus, sondern die Zerstörung der Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge. Wenn Sprache so verdreht wird, dass sie nichts mehr bedeutet – wenn „Frieden“ Krieg meint, „Freiheit“ Knechtschaft und „Sicherheit“ Überwachung –, dann verliert der Einzelne die Fähigkeit, überhaupt noch zu denken. Arendt erkannte: Die größte Gefahr liegt nicht in der Gewalt selbst, sondern in der sprachlichen Vorbereitung des Terrains, auf dem Gewalt dann widerstandslos operieren kann.
Libertäre Denker haben diesen Mechanismus schon früh durchschaut. Der Sprachphilosoph und Ökonom Murray Rothbard betonte in „The Anatomy of the State“ (1974), dass jeder Staat seine Existenz durch eine fundamentale Umdeutung rechtfertigen muss: Was beim Individuum Raub heißt, nennt der Staat „Besteuerung“; was beim Bürger Entführung wäre, ist staatlich „Wehrpflicht“; was als Erpressung verfolgt würde, firmiert als „Regulierung“. Die gesamte Legitimation staatlicher Macht beruht auf einem sprachlichen Taschenspielertrick – der Schaffung einer Sondervokabel für Handlungen, die unter anderen Umständen als kriminell gelten würden.
Der libertäre Journalist Henry Louis Mencken formulierte es bereits 1926 mit charakteristischer Schärfe: „The whole aim of practical politics consists in keeping the populace alarmed (and hence clamorous to be led to safety) by menacing it with an endless series of hobgoblins, all of them imaginary.“ (Das ganze Ziel der praktischen Politik besteht darin, die Bevölkerung in Alarmbereitschaft zu halten (und damit lautstark nach Sicherheit zu verlangen), indem man sie mit einer endlosen Reihe von Schreckgespenstern bedroht, die alle nur Einbildung sind.)
Die Sprache des Staates ist die Sprache der permanenten Krise, der existenziellen Bedrohung, des Ausnahmezustands. Und im Ausnahmezustand gelten andere Regeln – temporär natürlich, wie es stets heißt. Die Geschichte lehrt: Nichts ist dauerhafter als provisorische staatliche Notmaßnahmen.
Die Psychologie der sprachlichen Massenmanipulation
Der französische Sozialpsychologe Gustave Le Bon erkannte bereits 1895 in seinem Werk „Psychologie der Massen„, dass Sprache in kollektiven Zusammenhängen völlig andere Wirkungen entfaltet als im rationalen Diskurs zwischen Individuen. Le Bon beobachtete, dass Massen nicht durch logische Argumentation, sondern durch einfache, bildhafte Formeln, durch Wiederholung und durch emotionale Aufladung von Begriffen gesteuert werden.
„Die Macht der Worte steht in Beziehung zu den Bildern, die sie hervorrufen, und ist völlig unabhängig von ihrer wirklichen Bedeutung“, schrieb er. Ein Begriff wie „Demokratie“, „Sozialismus“ oder „Freiheit“ wirkt nicht durch seinen semantischen Gehalt, sondern durch die diffusen Gefühle, die er auslöst.
Für Libertäre ist diese Erkenntnis von besonderer Brisanz: Sie zeigt, dass gerade die Begriffe, mit denen Freiheit verteidigt werden soll, durch ihre massenpsychologische Vereinnahmung zu Werkzeugen der Unfreiheit werden können. Wenn „Sicherheit“ reflexartig mit staatlicher Kontrolle assoziiert wird, wenn „Solidarität“ automatisch Zwangsumverteilung bedeutet, dann hat die sprachliche Konditionierung der Masse bereits stattgefunden. Le Bons Analyse war jedoch keine Resignation – sie war eine Warnung: Wer die Mechanismen der Massenpsychologie versteht, kann sich ihnen bewusst entziehen.
Der aufgeklärte Einzelne, der seine Urteile nicht aus den emotional aufgeladenen Schlagworten der Masse bezieht, sondern aus rationaler Analyse, ist die einzige wirksame Barriere gegen sprachliche Manipulation. In diesem Sinne ist individuelle intellektuelle Unabhängigkeit nicht nur ein libertäres Ideal, sondern eine psychologische Notwendigkeit im Kampf gegen totalitäre Tendenzen.
Das Schlachtfeld der Begriffe
Betrachten wir konkrete Beispiele dieser sprachlichen Kriegsführung. Der „Kampf gegen den Terror“ – ein Begriff, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entstand. Die sprachliche Rahmung machte Kritik nahezu unmöglich: Wer gegen den „Kampf gegen den Terror“ war, musste ja logischerweise für den Terror sein.
Ähnliche Mechanismen beobachten wir bei der inflationären Verwendung des Begriffs „Hassrede“. Ursprünglich zur Bezeichnung von Aufrufen zu Gewalt gedacht, hat sich der Terminus zu einem universellen Totschlagargument entwickelt, mit dem missliebige Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden können. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017 delegiert die Definition dessen, was „offensichtlich rechtswidrig“ ist, faktisch an private Plattformen, die im Zweifel löschen – aus Angst vor Bußgeldern bis zu 50 Millionen Euro. Die Sprache der „Sicherheit“ und des „Schutzes“ bereitet hier den Boden für Zensur, ohne dass das Wort selbst fallen muss.
Oder nehmen wir den Begriff „soziale Gerechtigkeit“. Wer würde nicht für Gerechtigkeit sein? Doch wie Hayek in „The Mirage of Social Justice“ (1976) darlegte, ist der Begriff semantisch leer: Gerechtigkeit ist eine Eigenschaft menschlicher Handlungen, nicht unpersönlicher Prozesse. Eine Marktwirtschaft kann nicht „gerecht“ oder „ungerecht“ sein, sie ist ein spontaner Ordnungsmechanismus ohne Absicht. Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ dient daher primär als Rechtfertigung für staatliche Umverteilung – er ist Sprache als Waffe im Dienste der Macht.
Sprachkontrolle als Gedankenkontrolle
George Orwell, selbst zeitweise Sozialist, erkannte in seinem Essay „Politics and the English Language“ (1946) die fundamentale Verbindung zwischen sprachlicher Präzision und politischer Freiheit. Verschwommene, euphemistische Sprache dient nicht der Kommunikation, sondern der Verschleierung. Wenn Bombardierungen zu „chirurgischen Schlägen“ werden, Massenentlassungen zur „Restrukturierung“, Steuererhöhungen zu „Beiträgen zur Solidarität“, dann verliert Sprache ihre Orientierungsfunktion. Sie wird zum Nebel, in dem jeder Machthaber nach Belieben operieren kann.
Die moderne Identitätspolitik treibt diese Entwicklung auf die Spitze. Die Einführung immer neuer Pronomina, Sprechverbote, Triggerwarnungen und Safe Spaces sind Ausdruck eines zutiefst autoritären Impulses: der Überzeugung, durch Kontrolle der Sprache die Wirklichkeit selbst gestalten zu können. Der Psychologe Jordan Peterson wurde 2016 international bekannt, als er sich gegen die kanadische Bill C-16 stellte, die eine gesetzliche Verpflichtung zur Verwendung präferierter Pronomen einführen wollte. Seine Argumentation: Nicht was man sagen darf, sondern was man sagen muss, markiert die Grenze zur Tyrannei.
Hier offenbart sich ein Spannungsfeld innerhalb libertären Denkens: Einerseits verteidigen Libertäre die absolute Meinungsfreiheit, auch für widerwärtige Ansichten. Andererseits erkennen sie die Macht der Sprache, Herrschaft zu etablieren. Die Lösung liegt nicht in staatlicher Sprachregulierung – das wäre die Bekämpfung des Teufels mit Beelzebub –, sondern in einer „Abrüstung“ durch Sprachaufklärung. Nur wer die Mechanismen sprachlicher Manipulation durchschaut, kann sich gegen sie wehren.
Die libertäre Antwort: Transparenz statt Tabu
Was unterscheidet die sprachliche Bombe von der atomaren? Die Atombombe tötet unterschiedslos, die Sprachbombe zielt präzise. Sie tötet nicht den Körper, sondern die Fähigkeit zum selbstständigen Denken. Sie ist die perfekte Waffe für jene, die nicht durch offene Gewalt, sondern durch Zustimmung herrschen wollen. Der französische Philosoph Étienne de La Boétie erkannte bereits im 16. Jahrhundert in seinem „Discours de la servitude volontaire“, dass Tyrannen ihre Macht nur durch die freiwillige Knechtschaft der Beherrschten ausüben können. Und diese Freiwilligkeit wird durch Sprache hergestellt.
Die libertäre Antwort auf diese Bedrohung kann nicht in Sprachverboten liegen – auch nicht in umgekehrter Richtung. Sie liegt in radikaler Transparenz, in der konsequenten Benennung der Dinge, in der Weigerung, die euphemistischen Kategorien der Macht zu übernehmen. Wenn der Staat von „Steuern“ spricht, sollten wir von „erzwungenen Abgaben“ reden. Wenn Politiker „Solidarität“ fordern, sollten wir nach „gesetzlichem Zwang“ fragen. Wenn Aktivisten „Hassrede“ brandmarken, sollten wir nach konkreten Rechtsbrüchen unterscheiden.
Die gefährlichste Waffe der Menschheit ist die Sprache – aber sie ist auch die einzige Waffe, die zur Verteidigung der Freiheit taugt. Keine Revolution wurde je ohne Worte entfacht, keine Tyrannei ohne sprachliche Legitimation etabliert, keine Emanzipation ohne präzise Benennung der Unterdrückung erkämpft. Die Amerikanische Revolution brauchte Thomas Paines „Common Sense“, die Aufklärung Kants „Sapere aude!“, die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings „I Have a Dream“. Sprache ist Herrschaftsinstrument und Befreiungswerkzeug zugleich – die Frage ist nur, wer sie mit welcher Absicht einsetzt.
Weiterführende Links:
- George Orwell: „Politics and the English Language“ (1946) – Orwells klassischer Essay über den Zusammenhang zwischen sprachlichem Verfall und politischer Unfreiheit. Unverzichtbare Grundlektüre zum Thema.
- Foundation for Economic Education (FEE): „How the State Uses Language to Control Us“ – Die FEE bietet zahlreiche Artikel über sprachliche Manipulationstechniken im politischen Diskurs aus libertärer Perspektive. Besonders die Sektion zu politischer Rhetorik ist erhellend.
- Murray Rothbard: „The Anatomy of the State“ – Rothbards prägnante Analyse der sprachlichen Legitimationsstrategien staatlicher Macht. Kostenlos verfügbar über das Mises Institute.
- Reason Magazine: Artikel zu Meinungsfreiheit und Sprachkontrolle – Die führende libertäre Zeitschrift behandelt regelmäßig aktuelle Fälle von Sprachregulierung, Zensur und den Kampf um Definitionshoheit im öffentlichen Diskurs. Die Kategorie-Seite bietet Zugang zu hunderten Artikeln über Free Speech-Themen.
- Cato Institute: Free Speech and Civil Liberties – – Fundierte Studien und Analysen zu gesetzlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, mit besonderem Fokus auf die USA und die Erste Verfassungszusatz-Rechtsprechung. Das Cato Institute veröffentlicht regelmäßig Policy Analysis-Papers zu diesem Thema.